Brasilien und Corona — von Leugnung und Verzweiflung

Hannah K
5 min readOct 13, 2020
Der Ipanema Strand in Rio de Janeiro

Als Antônio Carlos Jobim im Jahr 1963 das mittlerweile weltweit bekannte Lied „The Girl from Ipanema“ verfasste und darin eine hochgewachsene und von der Sonne geküsste Schönheit beschrieb, dachte er vermutlich im Traum nicht an eine kalkweiße Erscheinung wie mich, mit der man im allerbesten Fall ein rohes Toastbrot assoziiert, wenn man ihr am Strand begegnet. Trotzdem wandle ich dieser Tage an den Stränden Rios entlang, wahlweise am Ipanema oder am Copacabana Strand, immer gewappnet mit Sonnenhut sowie Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 50. Trotz der Coronakrise bin ich nun hier, in einem wunderschönen Land, das mich seit jeher mit seiner Natur sowie der Mentalität seiner Einwohner in den Bann gezogen hat. Ein Land aber auch, das in der aktuellen Lage besonders leidet. Zum heutigen Zeitpunkt haben sich in dem bevölkerungsreichsten Land Südamerikas bereits mehr als 5 Millionen Menschen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, die Dunkelziffer wird deutlich höher geschätzt. Das macht einen Anteil von 2,44 % an der Gesamtbevölkerung des Landes aus. Zum Vergleich: in Deutschland liegt der Anteil der Infizierten im Verhältnis zu der Gesamtbevölkerung lediglich bei 0,4 %.

Doch Brasilien trifft es in Zeiten der Pandemie auch oder gerade wegen seines Präsidenten Jair Bolsonaro besonders hart. Seit dem Beginn der Pandemie spielt er die Gefahren der Krankheit herunter und stempelt das noch wenig erforschte Virus kategorisch als „leichte Grippe“ ab. Er selbst hatte sich zwischenzeitlich nach eigenen Angaben infiziert und in Quarantäne begeben. Seine Symptome waren jedoch wohl sehr harmlos, wodurch er sich scheinbar noch einmal in seiner Annahme bestätigt sah, dass es sich bei Corona um keine sonderlich ernst zu nehmende Krankheit handele. So ließ er nach seinem ersten negativ ausgefallenen Corona-Test auch nicht viel Zeit ins Land streichen, ehe er sich wieder auf öffentlichen Veranstaltungen zeigte. Diese Auftritte nutzt er nun, um das Virus weiter zu verharmlosen und die Menschen in einer falschen Sicherheit zu wiegen. Dies kommt vor allem bei seinen Anhängern gut an, die sich um die Wirtschaft des Landes und besonders um ihre Arbeitsplätze sorgen. Ihnen hat Bolsonaro wohl auch die jüngsten für ihn sehr gut ausgefallenen Umfragewerte zu verdanken: ganze 37 % der Bevölkerung stufen sein Handeln als gut oder sehr gut ein, wie eine aktuelle Umfrage der „Folha de São Paulo“ ergab. Gestärkt durch diese seit seiner Amtseinführung im Januar 2019 nie dagewesenen hohen Umfragewerte, wendet er der Bekämpfung des Coronavirus den Rücken zu und widmet sich den in seinen Augen wichtigeren Aufgaben. Diesbezüglich hat vor allem das Landraub-Gesetz oberste Priorität für den Präsidenten. Dieses Gesetz ermöglicht die Legalisierung des Eigentums auf öffentlichem Land, das vor 2018 unrechtmäßig besetzt und illegal abgeholzt wurde. In diesem Jahr wurde bisher bereits mehr Regenwald vernichtet als jemals zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2013.

Bolsonaro scheint die Chance zu nutzen, all dies im Schatten der Pandemie geschehen zu lassen. Denn für die meisten Brasilianer ist die Pandemie momentan präsenter als alles andere. In Rio de Janeiro, mit mehr als 6 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes, wurden alle erdenklichen Schutzmaßnahmen getroffen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. So wird bei jedem Besucher eines Einkaufszentrums Fieber gemessen und jedes Geschäft bietet ausreichend Möglichkeiten zur Handdesinfektion. Anders als in Deutschland tragen die Menschen hier auch auf der Straße eine Maske. Sobald man also die Wohnung verlässt, wird die Maske aufgesetzt und selbst am Strand begegnen einem Spaziergänger mit Maske auf, was in Kombination mit einer Sonnenbrille durchaus ein bedrückendes Gefühl der Anonymität auslösen kann. Die Cariocas, so nennen sich die Einwohner Rios, sind besorgt und setzen auf Vorsicht. „Die Maßnahmen sind wirklich machbar. Ich trage gerne eine Maske, wenn das bedeutet, dass ich meine Mitmenschen schützen kann.“, sagt Lucas, der in einer Bank im Zentrum Rios arbeitet.

Doch von dieser Vorsicht ist nicht in allen Ecken der Stadt etwas zu spüren. Gerade an den Wochenenden tummeln sich die Bewohner an den Stränden der Stadt, dicht an dicht wie die Sardinen in der Büchse genießen sie den Frühjahrsanfang. Auch auf den Märkten in der Stadt ist es mitunter sehr voll. Diese Märkte liegen meist in engen Seitenstraßen und sind sehr beliebt bei den Menschen, da die Waren dort frisch und zumeist günstiger als in den Supermärkten sind. Die Ansichten der Menschen sind divergent: während die einen beinahe Hypochonder gleich jegliche Schutzmaßnahmen befolgen, lehnen die andere diese vehement ab. Ein ähnliches Bild spiegelt sich in der aktuellen Lage wohl in jedem Land wider, die Meinungen über das Virus und den Umgang der Politik mit dem Virus gehen auseinander. Corona Leugner gibt es überall auf der Welt. So weit, so schlecht.

Doch gerade in einem Land wie Brasilien mit einem sehr schwachen Gesundheitswesen, ist vor allem der arme Teil der Bevölkerung dem Virus wehrlos ausgeliefert. Den Menschen in den Favelas, den für Brasilien bekannten Armenvierteln, bietet sich nicht die Möglichkeit, ihre Arbeit ins Homeoffice zu verlegen. Sie müssen zum Überleben weiterhin an den überfüllten Stränden und in den engen Gassen ihre Snacks und eisgekühlten Getränke verkaufen. Die sozial schwächste Bevölkerungsgruppe ist dem Virus tagtäglich am meisten ausgesetzt. Selbst wenn sie sich der Gefahren des Virus bewusst sind, bietet sich ihnen kein Entkommen aus der Gefahrenzone ihres täglichen Arbeitsalltags. Denn die Möglichkeit, die Arbeit niederzulegen, ist in Wahrheit keine Option. Am Strand treffe ich Bill, der in einer Strandbar arbeitet. Er verleiht Sonnenschirme und verkauft Eis und eisgekühlte Getränke. Bill ist Rentner und kommt eigentlich aus den USA. Seinen Lebensabend verbringt er an den schönen Stränden Rios und verdient sich mit seiner Arbeit etwas dazu. Ihm ist bewusst, dass die Einnahmen für die meisten seiner Kollegen mehr als ein kleines Zubrot sind — in vielen Fällen ist es das Gehalt, das eine ganze Familie ernähren muss. Bill erzählt mir, dass man seit Ausbruch der Pandemie an den Stränden kaum noch Touristen sähe, was erhebliche Einnahmeeinbußen bedeute. „Unter der Woche sind die Strände wie verwaist. An den Wochenenden sind sie aber überfüllt: die Brasilianer genießen das gute Wetter und achten dabei leider selten auf den nötigen Abstand. Sie kommen oft in großen Gruppen und spätestens nach ein paar Caipirinhas scheint Corona kein Thema mehr zu sein.“ Unter der Nachlässigkeit einiger leidet vor allem der arme Teil der Bevölkerung. Alle müssen sich nun ihrer Verantwortung im Kampf gegen das Virus bewusst sein, um sich und vor allem die schwächsten Glieder der Gesellschaft erfolgreich vor dem Virus zu schützen. Auf die Hilfe ihres Staatsoberhauptes können sie dabei wohl nicht vertrauen. Auch wenn sich die Infektionszahlen in den letzten Wochen auf ein zwar hohes, aber immerhin konstantes Level eingependelt haben, so ist die Gefahr des Virus noch lange nicht überwunden.

Probleme wie Kriminalität, Armut und die fortschreitende Abholzung des Amazonas drohten bereits vor der Pandemie, die Gesellschaft zu spalten. Mit dem Ausbruch der Pandemie kam dann ein weiteres Problem hinzu, das das Land nun auf eine harte Probe stellt. Die Menschen in Brasilien sind allgemein für ihre Gelassenheit und Lebensfreude bekannt. Es bleibt zu hoffen, dass sie diese Eigenschaften angesichts des Leids, das diese Pandemie über sie bringt, nicht verlieren.

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